Ist qualitatives Wachstum möglich?

Ist qualitatives Wachstum möglich?

Wir stehen vor einer gigantischen Herausforderung: Um die Klimakatastrophe zu verhindern, müssen wir innerhalb von zwanzig Jahren den CO2-Ausstoß drastisch reduzieren. Dafür muss die gesamte Wirtschaft umgestellt werden. Wir müssen es schaffen, eine prosperierende Wirtschaft ohne wachsenden Ressourcen-Verbrauch zu ermöglichen. Das geht nur durch qualitatives Wachstum.

Ist die Welt noch zu retten?

https://petersloterdijk.net/das-philosophische-quartett/ist-die-welt-noch-zu-retten/

„Ist die Welt noch zu retten? Ja, sagt Wirtschaftswissenschaftler Franz Josef Radermacher. Projekte für Wohlstand und Wohlfahrt könnten, global gesteuert und auf Interessenausgleich gerichtet, auf Befriedung und langfristige Sicherheit hinwirken. Der Kulturwissenschaftler Harald Welzer ist skeptisch. Den Grund sieht er vor allem in den dramatischen Klimaveränderungen.“

Wirtschaftswissenschaftler wie Franz Josef Radermacher gehen davon aus, dass die gesamte Wirtschaft von quantitativem Wachstum hin zu qualitativem Wachstum ohne Umweltzerstörung umgewandelt werden kann.

WachstumKritiker dieser wirtschaftsfreundlichen Sicht wie Harald Welzer sehen es als unmöglich an, dass die Wirtschaft weiterwächst, ohne dass die Umwelt noch mehr zerstört wird.

Dieses Dilemma, dass weiteres Wachstum und umweltfreundliche Reduzierung von CO2 (im erforderlichen Maße!) nicht zusammenpassen, kann man, wie wir hier zeigen werden, nur durch qualitatives Wachstum auflösen.

Wolfgang Mewes hat skizziert, wie das möglich ist: Ohne dass es von den meisten Beobachtern bemerkt wurde, befindet sich die Wirtschaft schon seit langem in einem Transformationsprozess – von materiellen Problemlösungen hin zu immateriellen Problemlösungen.

Von materiellen zu immateriellen Problemlösungen

Es lohnt sich diesen Transformationsprozess genauer anzusehen. Wolfgang Mewes hat eine ganze Hierarchie von Problem-Ebenen aufgezeigt:
Die Zeilen in dem blauen Kasten sind von unten nach oben zu lesen, von materiellen zu immer immaterielleren Problemen mit den Strategie-Problemen an der Spitze:

Strategie-Probleme: Wer den Engpass eines Anderen, sein brennendstes Problem, lösen kann, hat Macht über ihn. Wer den Engpass eines Systems kontrolliert, hat Macht über das System. Wer Macht nur für seine eigenen Interessen missbraucht, siegt zwar in vielen Auseinandersetzungen. Aber er erzeugt auf seinem Weg nach oben immer mehr Feinde und im schlimmsten Fall zerstört er das System, das ihn trägt.

Eine nachhaltige Macht-Strategie zwingt deshalb den Strategen dazu, die Interessen der Anderen und des Systems, in dem er lebt, zu berücksichtigen. Wenn er seiner Umwelt den größten Nutzen bietet, dann unterstützt die Umwelt ihn als ihren Problemlöser. Er muss dann nicht mehr gegen sie ankämpfen, sondern wird von ihr unterstützt.

Macht-Probleme: Wer emotionale Probleme lösen kann, Vertrauen und Ansehen genießt, Sanktionen verhängen kann, kann sich in einer Auseinandersetzung besser durchsetzen und damit seine finanziellen, wirtschaftlichen und materiellen Probleme lösen.

 

Emotionale Probleme: Informationen müssen auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft werden. Ist die Person, die mir die Information gibt, glaubwürdig? Erst dann, wenn die Person, die mich informiert, von mir als glaubwürdig eingeschätzt wird, kann ich die Information ernst nehmen und bei meinen Entscheidungen berücksichtigen.

Informations-Probleme: Durch bessere Information die Kapitalströme so lenken, dass das Kapital optimal eingesetzt wird, die finanziellen Probleme gelöst werden, Fehlinvestitionen vermieden werden können.

Finanzielle Probleme: Durch Einsatz von Kapital wirtschaftliche Probleme effizienter lösen. Kapital so einsetzen, dass mit dem geringsten Einsatz von Kapital die größte Wirkung auf der wirtschaftlichen Ebene erzielt werden kann.

Wirtschaftliche Probleme: Effizientere Lösungen für technische Probleme finden, Kosten reduzieren, Gewinn erhöhen.

Technische Probleme: Rohstoffe mit Hilfe von Technik bearbeiten, technische Lösungen für materielle Probleme finden

Materielle Probleme: Rohstoffe, unverarbeitete Lebensmittel finden

 

Spirale: Qualitatives WachstumProblemlösungs-Kettenreaktionen auslösen

Wolfgang Mewes hat erkannt, dass die Probleme vernetzt sind. Und dass man deshalb von einem einzigen „archimedischen“ Punkt aus eine Problemlösungs-Kettenreaktion auslösen kann. Die Strategie-Probleme sind der Engpass für die Entwicklung der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft. Verbessert ein Unternehmen seine Strategie setzt er eine sich selbst verstärkende Problemlösungs-Kettenreaktion in Gang.

Wer als Unternehmer den Engpass einer Zielgruppe, ihr brennendstes Problem lösen kann, hat Macht über sie. Wer zwar einerseits die vordergründigen Probleme seiner Zielgruppe löst, kann durchaus kurzfristig mehr Umsatz machen. Wenn sein Produkt andererseits nicht nachhaltig ist, nicht die hinter den aktuellen Problemen liegenden Probleme löst, verschärfen sich die Probleme für seine Zielgruppe. So erzeugt er auf seinem Weg immer mehr Feinde und im schlimmsten Fall zerstört er das System, das ihn trägt.

Größeren Nutzen stiften – statt Gewinn maximieren

Eine nachhaltige Macht-Strategie zwingt deshalb den Strategen dazu, die Interessen seiner Zielgruppe und Interessen seiner sozialen und ökologischen Umwelt, in der er lebt, zu berücksichtigen. Wenn er seiner Umwelt den größten Nutzen bietet, dann unterstützt die Umwelt ihn als ihren Problemlöser. Er muss dann nicht mehr gegen sie ankämpfen, sondern wird von ihr getragen.

Unternehmern kommt in der jetzigen Transformation zur ökologisch-sozialen Marktwirtschaft eine Schlüsselrolle zu: Nur wenn es genügend Arbeitsplätze gibt, die ohne Ressourcen-Verbrauch die Schaffung von Wohlstand garantieren, wird der Umbau ohne soziale Revolten gelingen.

Wir müssen weniger Eisen, Kupfer, Aluminium, Sand, Energie, Ackerboden, Wasser, Luft etc. verbrauchen. Das Ziel muss sein, die begrenzten Ressourcen der Erde nicht zu erschöpfen und unsere Lebensgrundlage nicht zu zerstören.

Gleichzeitig müssen wir den Menschen eine Perspektive bieten, wie sie ein gutes Leben in Wohlstand leben können. Der Mehrheit Verzicht zu predigen, während die Minderheit weiter im Luxus lebt, wird nicht möglich sein, ohne die Demokratie und den sozialen Frieden zu gefährden.

Qualitatives Wachstum als kreativer Ausweg aus der Krise

Der einzige Ausweg ist qualitatives Wachstum. Und der geht über die Forcierung des schon vorhandenen Trends zu immer immaterielleren Problemlösungen. Allerdings: Zu den technischen Innovationen, auf die die Unternehmer bisher gesetzt haben, müssen immateriellere Lösungen kommen.

Immateriellere Innovationen, was ist damit gemeint?

In der oben aufgeführten Hierarchie der Probleme wird aufgezeigt, dass man von einer höheren Ebene aus die darunterliegenden Probleme leichter und effektiver lösen kann.

Dafür muss man vom Produktions-Denken zum Bedarfs-Denken umschwenken. Bei der kopernikanischen Wende wurde das Weltbild grundlegend verändert: Vorher war die Erde der Mittelpunkt, nachher die Sonne der Mittelpunkt unseres Sonnensystems. Ähnlich muss der Produzent heute eine ähnlich radikale Wendung vollziehen: Statt sich selbst und seine Produktionsanlagen als Mittelpunkt seines Wirtschaftens zu sehen, muss er den Endkunden seiner Produkte als den Mittelpunkt sehen. Wofür haben die Endkunden seine Produkte bisher gebraucht? Und welche Bedürfnisse stecken letztendlich dahinter? Was ist das Grundbedürfnis, das durch die Produkte befriedigt werden soll?

Die Autohersteller haben erkannt, dass das Grundbedürfnis nicht das Besitzen eines Autos ist, sondern Mobilität. Aus der Perspektive von 2050 betrachtet wird klar, dass wir dann mit sehr viel weniger Autos unsere Mobilität-Bedürfnisse befriedigen werden. Werden müssen, weil die knappen Ressourcen nicht ausreichen, um allen Menschen auf der Erde ein eigenes Auto zu ermöglichen. Deshalb investieren Autohersteller in Carsharing-Flotten. (Nur ein Zwischenschritt, aber immerhin.)

 

Carsharing als ein Beispiel für immaterielle Problemlösungen

Ein intelligentes System, bei dem sich viele Menschen ein Auto teilen, ist eine immateriellere (und intelligentere) Lösung als der Besitz eines Autos. Carsharing ermöglicht es jedem, ein Auto zur Verfügung zu haben. Zumindest in der Großstadt, immer dann, wenn er es dringend braucht. Im Prinzip kann so ein Carsharing-Auto 24 bisherige Autos ersetzen: Im Schnitt fährt bisher jedes Auto maximal eine Stunde am Tag, die übrige Zeit steht es ungenutzt herum und verbraucht knappen Parkraum. Wenige Carsharing-Autos reichen also aus, um jeden bequem von A nach B zu bringen. Die Ressourcen-Einsparung kann also locker 95% betragen.

Eine Vernetzung von Leihfahrrädern, Lastenfahrrädern, Elektrorollern mit Carsharing und dem öffentlichen Nah- und Fernverkehr kann zu einer noch größeren Ressourcen-Einsparung führen.

Hinter jedem aktuellen Bedürfnis steckt ein dauerhaftes Bedürfnis

Wenn man dann noch ein bisschen weiterdenkt: Welches Grundbedürfnis steckt hinter dem Bedürfnis nach Mobilität? Es ist das Bedürfnis nach Austausch und Kommunikation. Corona hat uns gezeigt, dass viele Reisen überflüssig sind. Vieles kann von zu Hause aus auch per Videokonferenz erledigt werden kann.

Intelligente Kombinationen von vorhandenen Komponenten ergeben eine Lösung. Carsharing, vernetzt mit öffentlichen Verkehrsmitteln und Videokonferenzen, ist eine intelligentere Problemlösung als der Besitz eines eigenen Autos. In den letzten Jahrzehnten wurden die Wege zwischen Wohn- und Arbeitsplatz immer länger. Wenn dann die Städteplanung mit einbezogen wird, können die Wege zwischen Wohn- und Arbeitsplatz verkürzt werden.

Eine Krankenschwester kann sich eine Eigentumswohnung in München nicht mehr leisten. Warum plant die Stadt München nicht Sozialwohnungen in der Nähe des Krankenhauses, so dass die Krankenschwester dort wohnen kann? Statt sie jeden Tag über eine Stunde zwischen Arbeitsplatz und Wohnung hin- und herpendeln zu lassen? Das soll nicht gehen?

Warum soll heute nicht möglich sein, was Krupp und Siemens im 19. Jahrhundert mit Werkswohnungen geschafft haben? Das sei zu teuer? Kapital gibt es heute mehr als im 19. Jahrhundert. Und auch damals war es nicht Wohltätigkeit und Nächstenliebe allein, die weitsichtige Unternehmer dazu gebracht hat, Werkswohnungen für die Betriebsangehörigen zu bauen. München wird bald keine Krankenschwestern mehr haben, weil es für sie anderswo für das gleiche magere Gehalt eine höhere Lebensqualität gibt. Deutschlandfunk-Sendung: Abgehängt in München – Neustart mit Eigenheim im Norden

In Berlin fehlen Wohnungen. Bisher hatten Discounter wie Aldi, Lidl und Netto neue eingeschossige Läden mit riesigen Flächen für Parkplätze in die knapper werdenden Baulücken gebaut. Dann ist der Berliner Senat auf die Discounter zugegangen mit einem Vorschlag: Baut doch ab sofort mehrgeschossige Gebäude (auch über den Parkplätzen). Unten Parkhaus und Laden und darüber mehrere Etagen Sozialwohnungen. Die Reaktion war positiv, weil diese Lösung keinen Nachteil für die Discounter hat und ganz nebenbei auch noch ihr Image verbessert. Die Wege werden zumindest für die zukünftigen Bewohner kürzer, die Lösung ist für alle nachhaltiger und bittet einen größeren Nutzen für alle beteiligten.

Mehr dazu: Ein offener Brief an Harald Welzer: Ist qualitatives Wachstum ohne quantitatives Wachstum möglich?

Und zu dem Buch von Ulrike Herrmann „Das Ende des Kapitalismus“: Wie anders als Ulrike Herrmann annimmt, grünes Wachstum doch möglich ist.